Grenzgänger 1982: Kaffeefahrt mit Sperberkiste

 

Der Anruf kam überraschend. Um halb eins zu nachtschlafender Zeit klingelte das Telefon und aus dem Hörer schallte eine jung klingende Frauenstimme, die unvermittelt, ohne sich mit Namen vorzustellen, fragte: „Vermissen Sie nicht irgendetwas?“ Obwohl das Zeitalter der Telefonsexakquise 1982 noch nicht eingeläutet war, war ich drauf und dran unwirsch zu werden oder gleich aufzulegen, als mir plötzlich durch den Kopf schoss, dass mir vor zwei Tagen tatsächlich etwas nicht Unwesentliches auf unerklärliche Weise abhanden gekommen war. Mein Jungsperber, vor einer Woche beim Züchter Karl Dorschner in Bayern erworben, nach langer Autofahrt glücklich nach Hause gebracht, war zwei Tage zuvor von seiner Rundreck auf dem Balkon in Berlin-Gropiusstadt spurlos verschwunden. „Mein Sperber ist seit zwei Tagen weg..“ „ Sehen Sie, da kann ich Ihnen weiterhelfen“, unterbrach mich die Frauenstimme, „ich bin die Tochter von Herrn Busse“.

 

 

Mein Lebtag hatte ich noch nichts von einem Herrn Busse gehört oder gar je mit ihm zu tun gehabt, aber die mutmaßlich junge Dame half mir weiter, indem sie mich über die Zusammenhänge aufklärte, die sich in jener Zeit durch die politischen Verhältnisse als äußerst delikat und kompliziert erwiesen. Besagter Herr Busse war von Profession Tierpfleger, und zwar im Tierpark Friedrichsfelde in Ostberlin, sie selbst war in Westberlin verheiratet und gerade von einem ihrer regelmäßigen Besuche bei ihrem Vater zurückgekehrt. Herr Busse war für die Greifvogelabteilung zuständig und ihm war von einem Bahnarbeiter ein Sperber übergeben worden, der in einem Lokschuppen in Berlin-Johannisthal unweit der Grenze zu Westberlin aufgegriffen worden war. Da der Vogel perfekt mit Adresstafel aufgeschirrt, gut im Gefieder und relativ locke war, hatte sich Herr Busse in den Kopf gesetzt, dieser Vogel müsste eigentlich unbedingt wieder in die Falknerhände zurück, denen er entronnen war. „Aber strengste Diskretion, ich darf nicht damit in Verbindung gebracht werden, Westkontakte sind verboten“, hatte er seiner Tochter eingeschärft.

 

„ Und was nun?“,fragte ich ratlos mein Gegenüber am anderen Ende der Leitung, nachdem ich anfänglich freudig bewegt war und Hoffnung geschöpft hatte,. „Sie müssen ein Touristenvisum beantragen“, erklärte sie mir nach einer kurzen Pause, „ und rüberfahren, das wäre frühestens Freitag möglich. Ja, bei mir ginge das auch. Wir treffen uns Freitag so um 11 Uhr auf dem Parkplatz vor dem Tierpark und dann sehen wir weiter.“ „Wir könnten doch einfach zusammen fahren “, schlug ich vor. „Auf keinen Fall“, wehrte sie ab,“wir dürfen uns nicht einmal kennen, mein Vater kann da böse in die Bredouille kommen.“ Der Plan wies zwar noch erhebliche Lücken auf, aber wir waren uns einig, es zu versuchen.

 

Tags darauf beantragte ich auf der Passierscheinstelle der Deutschen Demokratischen Republik im Rathaus Steglitz ein Visum für Berlin, Hauptstadt der DDR, für touristische Zwecke. „Das dauert drei Tage“, beschied mich der glatt rasierte Beamte mit militärischem Haarschnitt in einem Anzug, dessen brauner Farbton unschwer mit einem Wort zu assoziieren war, das mit K beginnt. Für Freitag hatte ich mir einen Tag Urlaub genommen und ich wurde immer aufgeregter.

 

Schließlich war es soweit, ich verabschiedete mich von Frau und Kind, lud die von mir selbst konstruierte Transportkiste in meinen roten Passat. Die Kiste war ursprünglich für einen Habicht gedacht, für einen Sperber daher vollkommen überdimensioniert . Ein einfacher Karton hätte es auch getan, wäre unauffälliger und besser geeignet gewesen. Warum ich auf dieser Box bestand, ist mir heute auch nicht mehr klar, irgendwie muss sie Teil meiner Identität geworden sein. In die Kiste packte ich noch schnell  zwei Pfund Jakobs Kaffee von der Sorte Krönung, denn ich wollte ja nicht mit leeren Händen kommen und dass man im Osten auf Markenkaffee Wert legte, den man ja schließlich aus der Werbung kannte, hatten mir Freunde, die sich dort besser auskannten als ich, ans Herz gelegt. Mit Kaffee und Kiste, voll freudiger Erwartung, aber auch mit einem unbehaglichen Gefühl im Bauch rollte ich zum Grenzübergang Sonnenallee.

 

Vor mir standen nur wenige Wagen, in einer Baracke blätterte ich die obligatorischen 25 DM Zwangsumtausch hin und bekam dafür 25 Ostmark, die ich misstrauisch betrachtete. Das sollte Geld sein? Dann rollte ich im Schritttempo, nachdem mir der beleibte Grenzer fortgeschritteneren Alters mit einer herablassend sparsamen Geste zugewinkt hatte, zur Haltelinie mit dem Stoppschild vor. Er grüßte, nahm den Westberliner Personalausweis, den ich ihm entgegenstreckte, blickte hinein, nickte, beugte sich zu mir hinunter, warf einen strengem Blick unter seiner Schirmmütze auf mich und nuschelte: „Was ist denn der Zweck ihres Besuchs in der Hauptstadt der DDR?“ „Ähm, ja, touristische Zwecke.“ „Was wollen Sie denn besuchen?“ „Ja, da gibt es ja Verschiedenes.“ Ich kramte in meinem Kopf nach irgendwelchen touristischen Sehenswürdigkeiten in Ostberlin und wollte gerade den Fernsehturm anbringen, weil mir sonst in dem Augenblick nichts anderes einfiel, aber das schien ihn plötzlich nicht mehr weiter zu interessieren, denn er hatte die doch recht voluminöse Kiste hinten im Auto entdeckt. „Was ist denn da drin?“. „Nichts.“ „Na, dann machen Sie die doch mal auf.“ Ich stieg aus, öffnete die Heckklappe und die Tür der Kiste. Links und rechts der Reckstange lagen je ein Paket Jakobs Krönung. Der Grenzer steckte seinen Kopf in die Heckklappe, betrachtete die Reckstange, schüttelte den Kopf, deutete auf den Kaffee und fragte: „Und das?“. „Ach, der ist vom letzten Einkauf liegen geblieben, den führe ich wieder aus.“ „So, aha“. Es entstand eine längere Pause, er fixierte mich und ich schaute an ihm vorbei. „Na dann, Sie wissen, dass Sie die Hauptstadt bis Null Uhr wieder verlassen haben müssen?“ Damit klappte er meinen Ausweis zu und gab mir das Zeichen zur Weiterfahrt.

 

Uff, das war also geschafft. Ich lenkte mein Auto aus dem Kontrollpunkt und reihte mich in die Schlange von Trabis ein, die sich zäh von einer roten Ampel zur andern quälte. Manchmal ging  es nur im Schritttempo vorwärts, was wenigstens den Vorteil hatte, dass ich mich immer an Hand des Stadtplans, den ich auf den Knien liegen hatte, orientieren konnte. Die Route ging hoch kompliziert um 20 Ecken herum, zudem hatte ich das Gefühl, dass ganz Ostberlin zu meinem Empfang auf der Straße unterwegs war, überall staute es sich, Trabis und Wartburgs blubberten vor sich hin und stießen rhythmisch im Zweiviertel-Takt blaue Wölkchen aus, die Luft war angedickt. Obwohl ich früh los gefahren war, schaffte ich es gerade pünktlich um 11 zum Tierpark.

 

Ich kannte meine Komplizin nicht, hatte sie nie gesehen, aber ich musste mich ja zu erkennen geben, also holte ich meine Kiste aus dem Auto, stellte sie vor mich hin und schaute in die Runde. Da, das musste sie sein, eine junge, zierliche Frau von etwa 25 Jahren mit einem Kind an der Hand kam auf mich zu und warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu, den ich in anderer Situation sicher anders gedeutet hätte. Ich packte die Kiste, die für mich immer mehr zu einem Stück Heimat wurde, am Henkel und stolperte den beiden hinterher zur Tierparkkasse. Aus meinem Zwangsumtausch löste ich ein Ticket, musste den vollen Preis von 1,15 MDN (geschätzt) entrichten, weil ich mich weder zu den Jungpionieren noch den Verfolgten des Naziregimes zählen konnte und auch nicht in der NVA diente. Erstaunlicherweise nahm niemand Anstoß an meiner Kiste, die ich mit gleichgültigem Gesicht durch die Einlasskontrolle trug, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt.

 

Im Tierpark schloss ich zu meiner Helfershelferin auf und nach 50 Metern kam ein Mann von ca. 50 Jahren hinter uns her geradelt, raunte mir im langsamen Vorbeifahren zu: “Was soll denn dieser ganze Zirkus“, und fuhr langsam vor uns her. Wir folgten ihm bis zu den Greifvogelvolieren, wo er sein Fahrrad abstellte und in einem niedrigen Gebäude verschwand, während wir uns an seine Fersen hefteten und in den Aufenthaltsraum der Wärter gelangten. Dort standen wir uns gegenüber, ich stellte meine Kiste ab. „ Wie stellen Sie sich denn das vor, mit dieser Kiste kommen Sie doch nirgends durch,“ fuhr er mich an. In mir regte sich der Widerspruchsgeist. „Das ist doch mein Vogel, mein Eigentum, wenn ich ihn nicht bald zurückbekomme, ist seine Ausbildung gefährdet und er wird immer in dieser Kiste transportiert.“ Ich muss ziemlich überzeugt geklungen haben, denn er beruhigte sich schnell, führte mich nach hinten und wollte mir zuerst einmal den Vogel zeigen. In einer Ecke war ein Abteil mit Drahtgeflecht umzäunt und da saß mein Sperber, ganz ruhig und auch das Gefieder war noch in Ordnung. Ich musste ihn unbedingt wieder haben. Aber wie? Wir starrten uns ratlos an. „Mir sind Westkontakte strikt verboten“, sinnierte Herr Busse, fügte aber dann hinzu: „Es geht aber nicht anders, Sie müssen zur Direktion und irgendein Papier für den Sperber bekommen.“ Ich machte meine Kiste auf, holte die Kaffeepakete heraus, überreichte sie und schritt im Vollgefühl meines Rechts als Falkner und Eigentümer auf das Direktionsgebäude zu. Unten saß ein gelangweilter Pförtner und wippte mit seinem Stuhl. Ich trug mein Anliegen vor. „Dann gehen Sie mal in den zweiten Stock zu Dr. Dahte, dem Direktor.“

 

Die Flure, die ich durchschritt, waren menschenleer, auch aus den Räumen war nichts zu hören. Im zweiten Stock suchte ich die Türen ab, bis ich ein Schild entdeckte: Dr. Dathe, Direktor. Ich klopfte an. Nichts regte sich. Nochmal – wieder nichts. Ich öffnete vorsichtig die Tür und steckte den Kopf hinein. Der Raum war menschenleer, überall standen leere Flaschen herum, offensichtlich hatte hier vor kurzem eine Feier stattgefunden. Während ich noch die Szenerie betrachtete, hörte ich hinter mir eine Stimme: „Was machen Sie denn hier?“. Hinter mir stand eine Dame mittleren Alters. Ich schilderte ihr den Fall. „Dr. Dathe ist nicht mehr im Haus, ich bin seine Stellvertreterin“, beschied sie mich, „ aber das geht alles nicht, das muss zuerst über die Veterinäre laufen“. „Nicht ohne meinen Sperber“, setzte ich trotzig dagegen, „ohne den gehe ich hier nicht wieder raus.“ Sie hieß mich im Flur warten, ich setzte mich auf einen gelben Plastestuhl und starrte die Tür gegenüber an. Eine halbe Stunde verging, eine Dreiviertelstunde, irgendwann hörte ich eine Schreibmaschine klappern und Frau Dr. xxx kam heraus und drückte mir ein Papier in die Hand: „Wir haben mit der Sonnenallee telefoniert, Sie können damit ausreisen“. Es ging also doch. Mit stolzgeschwellter Brust, im Hochgefühl meines Erfolges schritt ich jovial grüßend am Pförtner vorbei, zeigte Herrn Busse mein Papier, stellte meinen Vogel in die Kiste, verabschiedete mich mit tausend Dankesbezeugungen von ihm und seiner Tochter und trat stante pede den Heimweg an. Am Kontrollpunkt zeigte ich mein Papier vor, warf 23,85 MDN in die Rot-Kreuz-Sammelbüchse und konnte ohne Probleme passieren.

 

 

Nachmittags um 4 stand mein Sperber wieder auf seiner gewohnten Rundreck auf dem Balkon.

 

Mein Sperber war übrigens nicht der einzige Beizvogel der zum Grenzgänger wurde, der bekannteste war wohl Christian Saars „Justav“, der selbst den Weg zurück in den Westen gefunden hat. Nach der Wende erfuhr ich außerdem, dass mein Rotkopfmerlin, der sich in Wannsee verstoßen hatte, in der DDR in die Hände von Falknern geraten ist und dort geflogen wurde.

 

Lothar Wenzel, LV Berlin

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