von Kuno Seitz [Tinnunculus 17/2003]
1994 durfte ich unseren Landesverband zum ersten Mal auf einer Ordenstagung vertreten. Das wollte gut vorbereitet sein und so zog es mich in diesem Jahr besonders häufig in den Berliner Tiergarten.
Vor allem an schönen Herbsttagen, wenn die Sonne noch einmal ihr Letztes gab, herrschte dort nachmittags ein munteres und buntes Treiben von Radfahrern, Joggern, Touristen, Kindern, Müttern und Vätern mit und ohne Kinderwagen und Hunden aller Größen und Rassen, die sich ungeniert ohne Leine tummelten. Es wurde gegrillt, gefeiert und gespielt. Die Kaninchen zogen es vor, unter Tage zu bleiben, sodass ich mich mehr der Beobachtung der menschlichen Gesellschaft zuwandte. Eine nicht mehr ganz junge Frau fiel mir besonders auf, in der ich eine Opernsängerin vermutete, der die Nachbarschaft zu Hause per einstweiliger Verfügung das Üben verboten hatte. Regelmäßig durchstreifte sie den Park, machte unvermutet schrille Stimmübungen oder trällerte Arien. Eine Hand war immer in der Manteltasche vergraben, wo sie vermutlich ein Tränengasspray umklammerte. Den höflichen Gruß, den ich ihr entbot, nachdem ich sie das dritte Mal getroffen hatte, ignorierte sie – ganz Diva - hochmütig.
Wahrscheinlich hielt sie ihn für plumpe Anmache. Trotzdem wäre ich ihr ritterlich beigesprungen, als ein feister, etwas schmuddelig aussehender Mann in einem grauen Jogginganzug vor ihr herumsprang. „Pfui, Sie Ferkel“, hörte ich sie empört schimpfen, aber ehe ich die Sachlage durchschaut hatte, war der Exhibitionist flink wie ein vom Habicht angejagtes Karnickel in den Rhododendren verschwunden.
